Bitte zuerst lesen: Über uns
- Einleitung: Man spricht Deutsch auf der ‚Balkanroute‘
Zusammenfassung: Viele Aktivist*innen aus Deutschland sind während des letztes Sommers auf die ‚Balkanroute‘ gefahren, um dort Migrant*innen zu unterstützen – dies schien ein neuer Trend in der antirassistischen Linken zu sein. Nach unseren eigenen Reisen zur ‚Balkanroute‘ wollten wir mehr über den Zusammenhang von dieser Art des Aktivismus mit unseren eigenen Privilegien reflektieren. Auf der einen Seite schien es wichtig zu sein, politische Solidarität mit Migrant*innen[1] direkt auszudrücken. Auf der anderen Seite haben wir realisiert, dass unsere Präsenz und unsere Aktivitäten dort manchmal unsere Privilegien und das System der weißen Vorherrschaft festigen.
Es geht östlich aus Belgrad raus, zur kroatischen Grenze. Kurzer Halt in Adaševci, an der Tankstelle an der die meisten Migrant*innen stundenlang warten müssen, bevor sie ihre Reise mit dem Zug fortsetzen können. Während wir einen Parkplatz für unseren Transporter suchen, fallen uns zwei andere Transporter auf: Deutsche Nummernschilder, der Kofferraum voll mit Küchenequipment, Kleider- und Schuhspenden. Einige Leute Mitte zwanzig mit Kapuzenpullis und Outdoor Jacken stehen um die Fahrzeuge herum und rauchen. Als wir näherkommen, ist schnell klar: Mensch spricht Deutsch. Die Gruppe ist gerade erst angekommen, ist sich noch nicht ganz sicher, ob sie an dieser Grenze bleiben oder zur südlichen serbischen Grenze fahren wird. Einige denken darüber nach, auf die griechischen Inseln zu fahren. Ihre Pläne? Essen und Tee kochen, Informationsmaterial verteilen. So in etwa das, was alle auf der ‚Balkanroute‘ machen. So in etwa, was wir gemacht haben.
Die sogenannte ‚Balkanroute‘[2] scheint zu einem trendigen Ort für emanzipatorische linke deutsche Aktivist*innen geworden zu sein. Die starken Proteste von Migrant*innen in der ungarischen Hauptstadt im August 2015 wurden vom ‚March of Hope‘, dem ‚Marsch der Hoffnung‘ gefolgt, der faktischen Öffnung der Grenzen und der Etablierung eines staatlich organisierten Transportkorridors durch die (süd-)osteuropäischen Staaten.[3] Aus der deutschen Linken heraus organisierten sich mehr und mehr Autokonvois, die das Ziel hatten, Menschen über Grenzen zu bringen. Ebenso fuhren immer mehr Kochkollektive Richtung Ungarn, Serbien, Griechenland oder Mazedonien.
Als wir begannen über junge Menschen nachzudenken, die in andere Länder fahren, sind uns zunächst die Begriffe ‚Holidarity‘ und ‚Voluntourism‘ eingefallen.[4] Die Begriffe weisen ironisch auf die Annahme hin, dass wir auf eine Art aktivistischen Urlaub in ‚Balkanländer‘ fahren und dort Freiwilligen- oder Unterstützungsarbeit in Solidarität mit Migrant*innen machen. Die Ressourcen und Kapazitäten zu haben und so selbstbewusst und bestärkt zu sein, die Entscheidung zu treffen so eine Art von Arbeit zu machen steht in Beziehung zu den Privilegien, die wir haben (z.B. unsere deutsche Staatsbürger*innenschaft, oder unser Weißsein). Szenen die wir erlebt haben oder von denen uns berichtet wurde, passen in das Muster von white charity[5]: Wir (und andere) ziehen öfter Vorteile aus unserer Position, als dass wir diese dekonstruieren.[6] Worin bestehen aus einer rassismus- und privilegienkritischen Perspektive die Fallstricke, wenn wir als weiße Deutsche auf die ‚Balkanroute‘ fahren,? Wie können wir über ‚Holidarity‘ und ‚Voluntourism‘ hinausgehen? Wie ist unsere Unterstützungsarbeit auf der ‚Balkanroute‘mit anderen Privilegien verknüpft, die sich entlang der Ungleichheitskategorien Geschlecht, Klasse oder Staatsbürger*innenschaft entfalten? Neben dem Nachdenken über das Verhältnis von Privilegien, Holidarity und Voluntourism werfen wir auch einen Blick auf das mangelnde Verständnis für lokale Kontexte, und die Art und Weise wie wir davon profitieren, auf der ‚Balkanroute‘ aktiv zu sein.
Wir müssen über Unterstützung‘ bzw. ‚Support‘ nachdenken, die Beziehung die daraus hervorgehen, und wie das alles als eine Form humanitärer Hilfe gesehen werden kann, mitsamt aller (problematischen) Aspekten. Wir denken auch, dass per se Hierarchien sowie rassistische und koloniale Beziehungen reproduziert werden wenn weiße deutsche Staatsbürger*innen Solidaritätsarbeit für Migrant*innen machen – egal ob wir darüber reflektieren oder nicht. Da über diese allgemeinen Phänomene in anderen Texten geschrieben wird[7], fokussieren wir uns hier nur auf die Aspekte, denen wir auf der ‚Balkanroute‘ begegnet sind. Unsere eigenen Erfahrungen im Kontakt mit Migrant*innen reflektieren wir nur im letzten Kapitel, während der Rest des Textes v.a. auf die Beziehung zu lokalen aktivistischen Gruppen sowie auf Unterstützungsarbeit im Sinne von Informations-/ Beratungsarbeit blickt (wir reflektieren nicht über Unterstützungsarbeit in Form von Kleider- und Essensausgabe).
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Solidarität auf der ‚Balkanroute‘ – ein Privileg?
Im Aktivismus auf der ‚Balkanroute‘ lassen sich viele Parallelen zu Urlaubsreisen finden. Diese Form von Aktivismus wird oft von Menschen gemacht, die sehr privilegiert sind: Von Menschen mit einem bestimmten Klassenhintergrund, die flexibel sind und Zeit und/ oder Geld, (deutsche) Staatsbürger*innenschaft und keine Sorgeverantwortlichkeit für Andere haben. Darüber hinaus ist unser Aktivismus auch von unserem Weißsein beeinflusst. Bilder von white charity und weißem Retter*innentum sind Gang und Gäbe.
Ein kleiner Kreis von Menschen sitzt auf Matrazen zusammen und teilt das Mittagessen. Das Haus in der Nähe des Zentrums einer griechischen Stadt wurde vor einigen Monaten besetzt, und wird nun vor allem von Migrant*innen bewohnt. Ein weißer Typ Ende zwanzig nähert sich der Gruppe. ‚Wo kann ich hier unterstützen? Wo werden Aktivist*innen in dieser Stadt gebraucht?‘ Eine Person aus der Runde antwortet: ‚Du musst im Plenum des besetzten Hauses fragen.‘ Eine andere Person schlägt vor, dass er doch auf eine der griechischen Inseln fahren soll, von dort gabs kürzlich einen Aufruf zur Unterstützung. Ein anderer Aufruf kam von Aktivist*innen aus Belgrad, bringt eine weitere Person aus der Runde ein. Die Enttäuschung ist dem Gast anzusehen. Das war nicht gerade das, was er hören wollte. ‚Ich komme gerade aus Lesbos und in zehn Tagen fahre ich nach Serbien. Jetzt suche ich etwas für Zwischendrin.‘ Etwas für Zwischendrin. Für unseren aktivistischen Urlaubsplan.
Um auf der ‚Balkanroute‘ zu unterstützen, nehmen wir uns von der Arbeit, Schule oder Uni frei, stimmen unseren Plan mit anderen Verantwortungen ab, die wir zu Hause haben. Aus unserer Sicht ist daran nichts falsch. Aber wenn wir über Holidarity nachdenken, zeigen sich erneut die strukturellen Ungleichheiten – für einige ist es eine aktivistische Urlaubsreise, für andere ein existenzieller Kampf gegen Grenzen. Wer hat überhaupt die Möglichkeit auf einen solchen aktivistischen Urlaub zu fahren? Wer bleibt zu Hause? Die Kollektive und Gruppen die wir getroffen haben, haben auf uns ziemlich homogen gewirkt. Deswegen haben wir zunächst über unsere eigenen Privilegien und die anderer Aktivist*innen die wir getroffen haben[8] nachgedacht, als wir uns die Konzepte ‚Holidarity‘ und ‚Voluntourism‘ genauer angeschaut haben. Auf der ‚Balkanroute‘ Unterstützunsgarbeit zu machen erfordert bestimmte Privilegien – oder wird zumindest durch diese vereinfacht.
Wir verstehen Privilegien als etwas, das wir als Resultat eines Systems von globaler Ungleichheit haben. Während Privilegien nicht geteilt werden können, ist dies mit den Ressourcen möglich, die sich aus Privilegien ergeben: Als deutsche Staatsbürger*innen können wir solidarisch mit Menschen ohne europäische Pässe handeln, aber es wird nie möglich sein, jemandem unsere Staatsbürger*innenschaft zu übertragen.
Welche Arten von Privilegien beeinflussen, wer auf die ‚Balkanroute‘ fährt, um dort Unterstützungsarbeit zu leisten? Ein wichtiges Privileg das Dinge einfacher macht sind Reisepapiere aus dem globalen Norden. Genauso wichtig ist aber auch die Klassenposition: Viele Leute die wir getroffen haben waren sehr flexibel hinsichtlich ihrer Zeiteinteilung, zum Beispiel weil sie gerade mit der Uni fertig geworden sind oder nicht in einem engen Arbeitsalltag stecken. Alle von uns sind in mehr oder weniger privilegierten ökonomischen Positionen und haben irgendwie genug Geld um für einige Wochen nicht arbeiten zu müssen – auch diejenigen, die Hartz IV beziehen. Diese Überlegungen gelten aber auch für diesen Artikel: Wer hat Zeit zu reflektieren? Wer hat die Energie und die Fähigkeiten solche Gedanken in einen Artikel zu stecken? Viele Gruppen und Einzelpersonen die wir getroffen haben, sind mit sehr wenig Geld gereist – sie haben in ihren Bussen und Zelten geschlafen, nur selbstgekochtes Essen konsumiert.[9] Aber selbst dann ist diese Art von Unterstützungsarbeit sehr viel zugänglicher mit dem Privileg, keine zu engen Verantwortlichkeiten zu haben, wie z.B. einen unflexiblen Arbeitsplan, Sorgeverantwortung für Kinder, Verwandte oder Andere. Da Sorgearbeit immer noch hauptsächlich auf den Schultern von *Frauen lastet, stehen diese Privilegien in Beziehung zu der geschlechtlichen Arbeitsteilung innerhalb der linken Szene (im 5. Kapitel schreiben wir mehr dazu).
Beim Nachdenken über ‚Race‘ fällt auf, dass die meisten Kollektive die wir auf der Balkanroute getroffen haben mehrheitlich weiß waren. Als weiß wahrgenommen zu werden bedeutet, dass unsere Präsenz kaum infrage gestellt wurde. Die Imagination von Westeuropa als weiß ist äußerst hartnäckig. In der dominanten rassistischen Ideologie werden nicht-weiße Personen nicht als Teil der imaginierten Gemeinschaften der westeuropäischen Nationalstaaten wahrgenommen – egal ob ihre Familien dort schon seit Generationen leben. Deshalb sind in der dominanten rassistischen Vorstellung Helfer*innen / Aktivist*innen/ Unterstützer*innen immer weiß, Migrant*innen hingegen nicht-weiß. Als weiße Personen wurden wir nie für Migrant*innen gehalten, und wir mussten auch unsere Anwesenheit nicht erklären. Für die Polizei und andere Autoritäten war klar, dass wir Helfer*innen oder etwas Ähnliches sind. Schwarze Personen / Persons of Color, die auf der ‚Balkanroute‘ als Helfende oder Unterstützende aktiv sind, sehen sich ständig mit dem dominanten Bild des weißen Helfenden konfrontiert, da sie sehr viel mehr Polizeikontrollen, ein ständiges doppeltes Kontrollieren der Pässe, rassistische Kommentare und so weiter erfahren. Während der ‚Refugee Movement Journey to Greece‘ haben wir mehrmals miterlebt, wie die Ausweispapiere der nicht-weißen Personen in der Gruppe streng von der Polizei kontrolliert wurden, z.B. beim Einsteigen in die Fähre auf eine griechische Insel.
Ein anderer Aspekt von Weißsein in diesem Kontext ist, dass wir uns immer fühlen als ob wir alles wüssten und immer einen Plan hätten, wie die Dinge laufen oder laufen sollen. Wir haben uns berechtigt gefühlt, in ein anderes Land zu gehen und Informationen, die wir gesammelt haben, zu teilen. Seit unserer Kindheit haben die meisten von uns gelernt, dass wir diejenigen sind, die etwas verändern können! Wir müssen nur in die Gänge kommen und so werden wir die Welt verändern! Die Bilder von weißen Retter*innen und großzügigen Geber*innen stecken tief in uns. Zudem nehmen wir diese Haltung auch als einen patriarchalen Teil unseres Aktivismus war: In einer weißen, patriarchalen Gesellschaft sind es die sichtbaren, lauten und spektakulären Aktionen, die ‚zählen‘ und etwas ‚verändern‘.
Es ist kaum möglich, diese Unterdrückungskategorien unverbunden voneinander zu sehen, da sie miteinander verknüpft sind. Unser langfristiges Ziel besteht darin, dieses System von Privilegien zu zerstören. Sie detaillierter zu analysieren bedeutet für uns, den ersten Schritt in diese Richtung zu machen – auch wenn Rassismus und White Supremacy nicht durch Selbstreflexion zerstört werden. Gibt es einen Weg, Ressourcen denjenigen zugänglich zu machen, die diese Privilegien nicht haben? Ein Versuch dieses Problem anzugehen war die ‘Refugee Movement Journey to Greece’ – eine Idee, die Anfang 2016 in unseren Strukturen sowie in Berlin und anderen Städten entstand. Im März und April 2016 fuhren hauptsächlich Menschen, die sich selbst als Geflüchtete auf der Balkanroute bewegt haben oder in selbstorganisierten Geflüchtetenbewegungen aktiv sind nach Griechenland. Einige haben sich auf Medienarbeit fokussiert, andere auf Vernetzung mit Geflüchteten und lokalen Aktivist*innen, wiederum andere haben hauptsächlich individuelle Unterstützungsarbeit geleistet. Die verschiedenen Aktivitäten sind zum Teil auf greecetour.oplatz.net dokumentiert. Wir präsentieren diese Reise nicht als ultimative Lösung für die Kritik, die wir hier angeführt haben. Aber wir finden es wichtig, praktisch zu versuchen eine Situation zu schaffen, die es mehr Menschen ermöglicht diese Art von Unterstützungsarbeit und Aktivismus zu machen.
Im nächsten Abschnitt werden wir argumentieren, dass wir auf der ‘Balkanroute’ vielleicht ein paar Wörter der lokalen Sprache aufschnappen können, aber im Allgemeinen nicht so viel vom politischen Kontext verstehen.
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Wissenslücken im Bezug auf den lokalen Kontext und deutsche Arroganz: Voluntourists auf der ‘Balkanroute’
Die Hauptprobleme als deutsche Aktivist*innen auf die ‘Balkanroute’ zu fahren waren folgende: 1 Wir können den lokalen politischen Kontext nicht voll und ganz verstehen und scheitern darin, bestimmte Ereignisse zu erklären. 2 Beim Versuch die Situation von Migrant*innen in Balkanländern zu skandalisieren, wurden von linken deutschen Aktivist*innen rassistische Vorurteile reproduziert. 3 In unserem eigenen Verhalten und dem von anderen Aktivist*innen haben wir eine Arroganz gegenüber lokalen Aktivist*innen wahrgenommen.
„Ich habe Probleme mit einigen Zeilen eures Live-Feeds. Bitte aktualisiert ihn und schreibt, dass Leute auch mit einem Taxi für 50-60 Euro pro Person fahren können. Ich bin registrierter Taxifahrer und habe Probleme mit Leuten, die eure Website lesen. Bitte schreibt, dass es eine Strecke von 600km ist, wir 1100 km fahren müssen um 80 Euro Gewinn zu machen, und dann nennen uns die Leute ‘Mafia’. Ich kann damit nicht umgehen. Ich habe Kinder und eine Frau und wir leben von meiner Arbeit. Die Leute denken, dass Taxifahren eine Art Mafia-Geschäft ist.“[10]
Diese E-Mail erreichte uns als Reaktion auf die Reiseinformationen, die wir (nicht) auf dem Welcome-to-Europe-live-Feed bereitstellten. Wir waren ziemlich überrascht. Tatsächlich hatten wir schon im Vorhinein darüber diskutiert, ob wir die Informationen mit einbeziehen sollen, dass auch Taxis von der serbisch-mazedonischen zur kroatischen Grenze fahren. Es gab Berichte von deutschen Aktivist*innen, dass Taxifahrer*innen Migrant*innen betrügen würden. Der Begriff ‘taxi mafia’ war Gang und Gäbe. Weil wir ein komisches Gefühl hatten, dieses Wort zu verwenden – aufgrund der rassistischen Bedeutungen des Wortes ‘Mafia’ im deutschen Kontext – entschieden wir uns dagegen Information über Taxis aufzunehmen.
Unwissenheit über den lokalen politischen Kontext
Wir mussten erst begreifen, dass Menschen die in Westeuropa aktiv sind, lokale Debatten (ob Mainstream oder aktivistisch) nicht immer vollkommen verstehen können. Die meisten von uns haben nur ein vages Bild von der Innenpolitik und der politischen Strukturen der Länder entlang der ‘Balkanroute’. Unabhängig davon haben wir oft Deutschland als den Staat hervorgehoben, der für die Grenzschließung/ Tote im Mittelmeer/ die schlechte Behandlung von Migrant*innen verantwortlich ist. Indem wir unsere Kritik nur auf Deutschland als das mächtigste Land in Europa bezogen, waren wir nicht in der Lage anzuerkennen, dass z.B. auch Staaten wie Mazedonien ihre eigenen Interessen verfolgen, wenn sie Grenzen schließen, ihren eigenen rassistischen Diskurs haben, und nicht einfach nur von Deutschland gesteuerte Puppen sind.
Reproduktion von rassistischen Vorurteilen
Gleichzeitig haben einige deutsche aktivistische Gruppen explizite rassistische Vorurteile über Ost-Europäer*innen reproduziert: In manchen Reiseberichten war das Bild von korrupten, heruntergekommenen, Mafia-ähnlichen Gesellschaften durchgehend präsent. Außerdem wurden unbewusst konservative Mainstream-Argumente benutzt: Um die Polizeigewalt in bulgarischen Gefängnissen für Migrant*innen zu kritisieren, wurde zum Beispiel gefordert, Bulgarien aus der EU zu werfen. Dies bestärkt das Bild der weißen Retter*innen: Weiße Deutsche retten arme Geflüchtete vor ‘unzivilisierten’ Menschen vom Balkan – in Gestalt von brutaler Polizei, rücksichtslosen Taxi-Fahrer*innen oder uninteressierten Anwält*innen.[11] Lasst uns nicht den größeren Kontext rassistischer und kapitalistischer Ungleichheitsstrukturen innerhalb Europas vergessen und uns in oberflächlichen Erklärungen verheddern, während wir Leute aus dem Globalen Süden auf ihrer Durchreise unterstützen. Die ‘Balkanroute’ ist kein politisches Vakuum.[12] Strukturelle Ungleichheiten beeinflussen auch den Aktivismus in den Balkan Staaten: Wer hat die Möglichkeit einen aktivistischen Urlaub an den Grenzen der EU zu verbringen? Viele unserer Genoss*innen entlang der ‘Balkanroute’ sind (viel mehr als die durchschnittlichen deutschen Aktivist*innen) auf Lohnarbeit angewiesen (wenn sie überhaupt eine haben können) oder damit beschäftigt, ohne Lohnarbeit und Sozialsystem zu überleben. An den Grenzen präsent zu sein, benötigt Zeit und Flexibilität, sowie finanzielle Mittel um Reisekosten und Aufenthalt zahlen zu können. Unserer Meinung nach sollte eine kapitalismuskritische Perspektive fundamentaler Bestandteil von Aktivismus entlang der ‘Balkanroute’ (und natürlich auch anderswo) sein. Es ist ein Privileg von Westeuropäer*innen, die Verbindung zwischen Migration und Kapitalismus oft nicht klar sehen und benennen zu müssen, während diese Aspekte für Menschen mit anderen ökonomischen Positionen aufgrund ihrer alltäglichen Erfahrungen ziemlich klar sind.
Arroganz gegenüber lokalen Aktivist*innen
Unseren eigenen Stil aktiv zu sein und die Welt zu erklären als den richtigen und einzigen zu sehen, ist vielleicht keine Besonderheit der deutschen Linken, aber wir nahmen eine Tendenz war, sehr dogmatisch und arrogant mit unseren Ideen umzugehen. Ein Beispiel: Bilder von geflüchteten Kindern zu machen ist hoch problematisch. Die meisten von uns kennen die Argumente gegen die Darstellung von Migrant*innen als Opfer und die Instrumentalisierung von solchen Bildern. Aber: Müssen wir wirklich den unabhängigen syrischen Fotografen darüber belehren? Unserer Meinung nach spielt die soziale Position eine Rolle. Das heißt nicht, dass es keine Debatten geben sollte. Aber die Art und Weise, wie diskutiert wird kann einen riesigen Unterschied machen.
Ein anderes Beispiel: Unsere eigenen politischen Vorstellungen wurden sehr tief von den selbstorganisierten Geflüchtetenprotesten geprägt, die einen Fokus auf migrantische Selbstorganisation und unabhängige Organisierung von Geflüchteten und Unterstützer*innen legten. Diese und andere Vorstellungen zum Thema Unterstützungsarbeit scheinen dominant in weiten Kreisen in der deutschen ‘anti-rassistischen’ Szene zu sein. Entlang der ‘Balkanroute’ wird dieses Verständnis von Aktivismus mit anderen Konzepten politischer Organisierung konfrontiert. Eine lange Geschichte der Auswanderung aus Balkan Staaten, oder der Kampf gegen europäische Austeritätspolitik prägen das politische Selbstverständnis lokaler Aktivist*innen. Lasst uns ihren Vorstellungen von politscher Organisierung zuhören und davon lernen, uns auf politische Debatten einlassen und mehr über die lokalen politischen Kontexte lernen![13] Lasst uns nicht sicher sein, dass ‘unser’ Verständnis der Dinge das richtige ist. Deswegen schlagen wir auch im nächsten Abschnitt vor, die lokalen politischen Strukturen ernst zu nehmen und ihnen zuzuhören.
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Fettnäpfchen im Kontakt mit lokalen Aktivist*innen: Respekt, Unterstützung und Überladung der lokalen Strukturen
Beim Nachdenken über unseren Kontakt mit lokalen Aktivist*innen kamen folgende Punkte auf: 1 Wir fanden es wichtig, die Arbeit die dort seit Jahren von den lokalen Strukturen gemacht wird anzuerkennen. 2 Das Netzwerken von ausländischen Aktivist*innen passiert oft in einer Blase und ignoriert manchmal die lokalen Strukturen. 3 Die lokalen Strukturen andauernd um Hilfe zu bitten, erzeugt bisweilen mehr Druck für diese. 4 Geld zu teilen ist ein Versuch der Umverteilung innerhalb aktivistischer Kreise, aber schafft auch Probleme in den Beziehungen zwischen Aktivist*innen und stärkt den Fokus auf Geld-zentrierten Aktivismus.
Mal angenommen, wir akzeptieren, dass wir während unserer politischen Arbeit entlang der ‘Balkanroute’ meist nur ahnungslose aktivistische Tourist*innen sind. Angenommen wir erkennen unsere eigene limitierte Perspektive. Was folgt daraus? Unsere Idee war zunächst simpel: Die aktivistischen lokalen Strukturen wertzuschätzen. In Slowenien, Kroatien, Serbien, Mazedonien, Griechenland, Bulgarien, Rumänien und Ungarn sind grass-roots Organisationen und Kollektive seit Jahren mit Geflüchteten solidarisch aktiv. Seit der breiten Medienberichterstattung im Sommer und Herbst 2015 sind große Teil der deutschen Linken an dem was jetzt ‘Balkanroute’ genannt wird interessiert. Für lokale Aktivist*innen sind Menschen, die Richtung West- und Nordeuropa durchreisen kein neues Phänomen. Unserer Meinung nach ist es fundamental, ihr Wissen und ihre Positionen ernst zu nehmen.
Netzwerken unter Aktivist*innen
Angesichts der vielen deutschen Aktivist*innen und Gruppen die auch auf der ‘Balkanroute’ unterwegs sind, ist es sehr einfach vor allem auf die Netzwerke aus unserer Arbeit in Deutschland zurückzugreifen. Es ist ziemlich bequem, uns mit den autonomen Küchen-Kollektiven zu vernetzen und sie als Informationsquelle zu verwenden, da wir einige vielleicht bereits aus vergangenen Aktivitäten kennen. Darin sehen wir nichts Verkehrtes! Es wird nur zum Problem, weil wir dazu tendieren, langfristige politische Strukturen zu übersehen und verpassen, ihre Einschätzungen der Situation ernst zu nehmen. Als eine Antwort auf die Frage „wohin gehen und was machen?“, haben wir gesagt bekommen ‚In xy (Grenzstadt, Stadt, Insel) ist keine*r. Dort herrscht akuter Bedarf an Personen. Fahrt dorthin!‘. So eine Art Aussage mag für viele Orte entlang der ‘Balkanroute’ stimmen. Aber oft sind auch Leute da, die aktiv sind! Wir tendieren nur dazu, sie zu ignorieren, da sie vielleicht nicht diejenigen sind, die ein linkes, deutschsprechendes Publikum in den sozialen Medien adressieren, nur um ein Beispiel zu nennen. Für uns kam daher die folgende Frage auf: Welche Kollektive sind sichtbar, welche nicht? Was sind die Gründe dafür?
Für alle, die entlang der ‘Balkanroute’ aktiv sind, erscheint eine pragmatische Arbeitsteilung als eine Option, da eine so große Anzahl (mehr oder weniger) gleichgesinnter Aktivist*innen vor Ort ist. Lokale Gruppen benutzen die Kontakte zu westeuropäischen Kollektiven um direkte Informationen über die Situation an den Grenzen zu bekommen, und Aufgaben zu übergeben. Außerdem kann aus einer langfristigeren politischen Verbindung und dem Austausch zwischen politischen Tourist*innen und lokalen Kollektiven ein gegenseitiger Informations- und Inspirationsfluss entstehen, der in konkrete Aktionen und Organisierung mündet.
Lokale Kollektive um Hilfe bitten
Der Kontakt mit lokalen Kollektiven hält ein paar Fettnäpfchen bereit. Die Präsenz aktivistischer Gruppen aus Westeuropa war nicht immer nur eine Unterstützung für die lokalen Gruppen, und war auch nicht unbedingt auf gegenseitiger Unterstützung gegründet. Aus Gesprächen mit lokalen Aktivist*innen haben wir gelernt, dass die Präsenz von Aktivist*innen aus dem Westen manchmal zu einer Überladung der Strukturen führt und ein Mehr an Belastung bedeutet. Lokale Kollektive wurden wieder und wieder mit den gleichen Anfragen kontaktiert. Das heißt, immer wieder den lokalen Kontext erklären und Leute im Squat herumführen zu müssen, oder eine Meinung dazu abzugeben, wohin es Sinn macht zu fahren und was zu tun ist. Zusätzlich ist es für die lokalen Strukturen eine Herausforderung auf unsere politische Arbeit zu setzen, wenn wir nur für einen kurzen Zeitabschnitt vor Ort sind – auf ‘Holidarity’ zu sein, heißt nur für ein paar Tage, Wochen oder Monate an einem Ort aktiv zu sein.
Als wir anfingen ein paar von diesen Problemen stärker wahrzunehmen, wollten wir die Arbeit der lokalen Strukturen entlang der ‘Balkanroute’ sichtbarer in Deutschland machen. So versuchten wir beispielsweise, ihnen Raum in unseren Medienkanälen zu geben. Anstatt selbst Reiseberichte oder Statements zu schreiben[14], baten wir lokale Gruppen oder aktive Personen um Interviews.[15] Außerdem versuchten wir so oft wie möglich ihre Einschätzungen einzuholen – zum Beispiel nachdem wir die obengenannte E-Mail über die ‘Taxi-Mafia’ erhielten – und sie als die Expert*innen für die lokale politische Situation anzuerkennen. Desweiteren ist es wichtig, dass ‘sie’ – Aktivist*innen in Südosteuropa – nicht mit einer Stimme sprechen. Wenn wir nach Rat oder Meinungen fragen, bleiben wir dennoch in der Position zu entscheiden wem wir zuhören. Als ‘voluntourists’ wählen wir unseren Tourguide. Wir nehmen an, dass allein schon ein Bewusstsein für diese Dynamiken einen Unterschied für die Praxis machen kann.
Geld und andere Ressourcen teilen
Ein weiterer Versuch, die Machtaufteilung zu überwinden, bestand darin materielle Ressourcen für lokalen Gruppen bereitzustellen. Wir mussten jedoch feststellen, dass dies eben die gleichen Hierarchien bestärkt hat, die wir versuchten damit zu bekämpfen: Westeuropäische Gruppen als die vermögenden Gönner, die einfach mal so 500 Euro für einen Generator ausgeben können um ihn einem finanziell schwachen Kollektiv in Osteuropa zu geben. Aus dieser Perspektive sind die Versuche der Umverteilung gescheitert, was aber nicht heißen soll, dass sie gar nicht stattfinden sollten. Aus unserer Sicht macht es weiterhin Sinn, Ressourcen zu teilen, weil wir in Deutschland tatsächlich viel einfacher Geld auftreiben können, z.B. durch Barabende in autonomen Zentren, über Crowdfunding-Plattformen oder linke Stiftungen. Trotzdem haben wir von unseren Genoss*innen dort gelernt, dass, auch wenn finanzielle oder materielle Unterstützung benötigt wird, dies nicht der entscheidendste Punkt ist! Politische Arbeit hängt von so viel mehr Aspekten ab – zum Beispiel von der gesellschaftlichen Stimmung, den politischen Umständen oder staatlicher Repression. Unser Aktivismus ist oft ziemlich auf Geld fokussiert. Das macht uns weniger kreativ im Versuch eine langfristige und nachhaltige Form von Aktivismus zu entwickeln, die weniger auf Konsum basiert. Jedenfalls enthüllt die Frage nach der Verteilung von Ressourcen ein Spannungsfeld, das wohl nicht aufgelöst werden wird, solange kapitalistisch produzierte strukturelle Ungerechtigkeit existiert. Wir denken, dass es darauf ankommt, langfristig gegen diese Strukturen zu kämpfen, während wir gleichzeitig ein Bewusstsein für diese Spannungen in unserem alltäglichen Aktivismus haben und versuchen mit und innerhalb von ihnen zu leben und zu handeln.
Im nächsten Abschnitt argumentieren wir, dass ebendiese strukturellen Ungleichheiten die Reaktionen beeinflussen, die wir als weiße deutsche Aktivist*innen sowohl von den Leuten auf der Durchreise als auch in Deutschland erhalten: Als ‚Volontourists‘ auf ‘Holidarity’ auf die ‘Balkanroute’ zu fahren bedeutet, gesellschaftliche Anerkennung zu erfahren.
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Von ‘Holidarity’ profitieren: Erfahrungen, Wissen, soziale Anerkennung
Besonders nach unseren ersten ‘Unterstützungs-Ausflügen’ haben wir über die Auswirkungen nachgedacht, die diese für uns haben: Wir profitieren aufgrund von Erfahrungen, Wissen, und soziale Anerkennung davon, auf die ‘Balkanroute’ zu fahren. Diese Art von Unterstützungsarbeit ist sehr sichtbar und gesellschaftlich anerkannt. Auch innerhalb der linken Szene ist es viel attraktiver und geschätzter auf die ‘Balkanroute’ oder zu ähnlichen Orten zu fahren, als aktivistische ‘Fürsorge’-Arbeit im Kleinen in Deutschland zu machen. Als deutsche Staatsbürgerinnen bekamen wir außerdem besondere Anerkennung für unseren Aktivismus von Migrant*innen.
Einige Personen sitzen nah beieinander um möglichst viel der Wärme vom Feuer abzubekommen. Hände und Füße strecken sich zum brennenden Holz. Die Nächte in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze sind eisig kalt. Gespräche entstehen schnell. Unsere Nachbarn in dieser Runde sitzen seit der Grenzschließung vor ein paar Wochen in Idomeni fest. „Wo kommt ihr her?“ Die zu erwartende Frage. „Deutschland“. Dieses Mal fällt die Antwort anders aus. „Deutschland? Dann will ich nicht mehr mit euch sprechen.“ Eine seltene Antwort. Nachdem wir viele Lobpreisungen auf die großartige Nation Deutschland gehört haben, schlagen unsere anti-nationalen Herzen schneller. Eine politische Diskussion über die schmutzige Rolle Deutschlands im europäischen Grenzsystem und im globalen Kriegsgeschehen entsteht. Wir können nur nicken und zustimmen. Aber unsere Gesprächspartner geben sich nicht mit unserem Beipflichten zufrieden: „Euer Land und eure Regierung stehen besser dar, wenn ihr hier seid und Leuten helft.“
Sicher sind unsere Motivationen für diese Art von Tätigkeiten nicht in erster Linie selbstbezogen. Zu fragen, ‘wer profitiert von etwas und auf welche Art?’ hilft dabei, Machthierarchien zu analysieren. Es ist ziemlich normal und nicht automatisch schlecht, dass wir von den Sachen, die wir machen, auch etwas haben, also in irgendeiner Weise profitieren – aber es ist wichtig, diese Prozesse offenzulegen, um die Machtdynamiken in unserem Aktivismus zu verstehen. Und wir profitieren ziemlich von dieser Arbeit: Wir gewinnen nicht nur soziale Anerkennung, sondern auch Erfahrungen, Geschichten, die wir erzählen können, Wissen über das Grenzregime, Beziehungen zu Migrant*innen die wir treffen, und so weiter. Auf diese Weise wird das neo-koloniale System von Privilegien durch die Unterstützungsarbeit, die wir machen oft eher stabilisiert als destabilisiert. Kurzfristig sehen wir keine Möglichkeit, dieser Kompliz*innenschaft zu entkommen. Auf der Basis unserer aktuellen Reflexion können wir das alles nur ehrlich anerkennen, und versuchen die Strukturen langfristig zu bekämpfen.
Anerkennung durch die deutsche Gesellschaft
Im Herbst hat die deutsche Gesellschaft die Entwicklungen auf der ‘Balkanroute’ als ‘humanitäre Katastrophe’ wahrgenommen, und bis zu einem bestimmten Grad mit den Migrant*innen sympathisiert. Viele Menschen, die zuvor nicht aktiv gewesen sind, organisierten sich und begannen Spenden für Migrant*innen an der ungarischen Grenze zu sammeln, oder sie an deutschen Bahnhöfen willkommen zu heißen.[16] Auf die ‘Balkanroute’ zu fahren ist in weiten Kreisen anerkannt – mehr als jede andere Unterstützungsarbeit für Geflüchtete. Unserer Erfahrung nach wird in Deutschland auf die Unterstützung von Migrant*innen in radikalen politischen Kämpfen, wie zum Beispiel Hungerstreiks für Bleiberecht oder Kämpfen gegen Abschiebungen, in nicht-aktivistischen Umfeldern viel feindlicher reagiert. Diese Anerkennung des ‘Auf-die-Balkanroute-Fahrens’ erinnerte uns an die Anerkennung, die junge Menschen aus Deutschland erfahren, wenn sie einige Monate als Freiwillige in ein Land des Globalen Südens gehen. Wir sehen auch andere Parallelen zwischen Unterstützungsarbeit entlang der ‘Balkanroute’ und Freiwilligenarbeit im Globalen Süden: Diejenigen, die diese Arbeit machen, profitieren mehr von den Strukturen die sie besuchen, als dass sie irgendetwas am neo-kolonialen System ändern, das diese globalen Ungleichheiten produziert.[17]
Anerkennung innerhalb der aktivistischen Szene
Wenn mensch sich aktivistische Kreise anschaut, fallen die Parallelen zwischen Unterstützung auf der ‘Balkanroute’ und ‘in den Dschungel bei Calais zu fahren’ auf – definitiv ein ähnlich beliebtes Ziel von ‘voluntourism’ der letzten Jahre: In beiden Fällen ist ein ähnlich problematisches Verständnis von einer Fahrt ‘in die Wildnis’, auf ein aktivistisches Abenteuer präsent.[18] Unserer Beobachtung nach sind Anti-Abschiebe-Arbeit, Anti-Repressions- oder alltägliche Asylverfahrensunterstützung sehr viel unsichtbarer. Diese Art von Aktivismus erscheint nicht so aufregend, da sie viel Papierkram, Kommunikation mit Anwält*innen und Behörden enthält, mehr im Hintergrund passiert und in den Köpfen vieler ein gewisser Funken Abenteuer fehlt. Wir würden sagen, dass es hier um eine Art von aktivistischer Fürsorge-Arbeit geht, die wie die meisten Fürsorge-Arbeiten in der Gesellschaft zumeist auf den Schultern von Frauen* (mit oder ohne Migrationserfahrung) und/ oder People of Color und/ oder Menschen mit Migrationserfahrung lastet.[19] Bei genauerem Hinsehen verschwimmt jedoch die Grenze zwischen abenteuerlichem Aktivismus und Fürsorge-Arbeit. Ein Großteil der Unterstützungsarbeit auf der ‘Balkanroute’ könnte ebenso als eine Art von Fürsorge-Arbeit gesehen werden: Essen oder Kleidung verteilen, sich über die Asylverfahren von Menschen Gedanken machen, und so weiter. Nichtsdestotrotz beinhaltet diese Art von Fürsorge-Arbeit das Reisen und eine Prise aktivistischen Abenteuerurlaub. All dies macht sie attraktiver als die Fürsorge-Arbeit, die im Geflüchteten-Lager um die Ecke oder in unserer Nachbar*innenschaft stattfindet. Wir wollen eines nicht vergessen – es geht um einen politischen Kampf für ein Recht zu gehen und für das Recht zu bleiben. Lasst uns die Kämpfe der Menschen im Lager in unserer Nähe kennen lernen!
Oft übersehen wir die stillen, kleinen Schritte, die Solidaritäten organisieren, communities stärken und langfristige, vertrauensvolle Netzwerke aufbauen. Diese unsichtbaren Entwicklungen werden oft nicht als ‘politische’ Arbeit wahrgenommen und vielleicht kommt dabei kein unmittelbar erkennbares Ergebnis heraus – wie es bei einer Demonstration, einer öffentlichen Debatte im Autonomen Zentrum oder einem selbstgestalteten Heft der Fall ist. Wir wollen diese enge Definition des ‘Politischen’ in Frage stellen und die Wichtigkeit dieser Art von politischer Arbeit herausstreichen.
Anerkennung von Migrant*innen
Wie in der obigen Szene beschrieben wird, war eine weitere Form der Anerkennung im Kontakt mit Migrant*innen spürbar. Viele Geflüchtete drückten eine besondere Anerkennung dafür aus, dass Menschen aus Deutschland sie unterstützen. Sich so positiv auf Deutschland zu beziehen, kann eine Strategie sein, die eigenen Rechte einzufordern: Wenn Deutschland so ein tolles Land ist, das die Menschenrechte schützt, muss es die Asylgesuche anerkennen: Ihr seid toll, weil ihr uns hier unterstützt. Dann muss eure Regierung uns ebenso unterstützen. Aber wie wir manchmal mitbekamen, geht die hohe Anerkennung, die wir erfuhren, Hand in Hand mit einer Abwertung und Misstrauen gegenüber Menschen aus osteuropäischen Ländern. Wieder wird das Bild von weißen Deutschen, die Geflüchtete vor Menschen vom Balkan beschützen, bestärkt.
Wie können wir Praktiken der Solidarität entwickeln, die sich jenseits von Hilfe und Unterstützung bewegen, zwei Aktivitäten, die immer implizieren dass es eine Person gibt die unterstützt, und eine andere, die Unterstützung benötigt? Im nächsten Abschnitt gehen wir mehr auf die Art von Unterstützungsarbeit ein, die entlang der ‘Balkanroute’ stattfindet.
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Über unsere Unterstützungsarbeit und Verantwortung
Die konkrete Unterstützungsarbeit betreffend, haben wir an fünf größere Themen gedacht: 1 Unsere Interaktion und Beziehung mit Menschen, die wir unterstützen wollen, resultiert in einer gewissen Verantwortung. 2 Ist es eine Form der kleinen Intervention, als westeuropäische Staatsangehörige ‘vor Ort zu sein’? 3 In jeglicher Unterstützungsarbeit sind die materiellen Hierarchien zwischen denen, die unterstützen und denen die unterstützt werden grundlegend für diese besondere Beziehung. 4 Wir sollten uns selbst nicht so ernst nehmen, weil Migrant*innen auch ohne unsere ‘Hilfe’ klarkommen.
„Also mein Gefühl ist, dass wir hier in Idomeni in einem Zoo leben. Wir sind keine Menschen. Viele Leute kommen her, machen Fotos, spielen mit unseren Kindern und gehen dann nach Hause und spielen dort mit ihren eigenen Kindern. Und wir bleiben hier, in diesen Zelten.“
– Interview mit Taysir A., Idomeni (April 2016)[20]
Taysir A. steckt seit Februar an der griechisch-mazedonischen Grenze fest. Seine Aussage spiegelt eine Kritik von westlichen Aktivist*innen/ Freiwilligen wider, die für kurze Zeit an die Grenze oder in Lager fahren. Auch der syrische Fotograf Manar Bilal fordert: „Unsere Flüchtlingslager sind keine Touristen-Attraktionen“[21]. Deshalb: Wie lange müssen wir auf ‘Holidarity’ gehen um über die Position von Tourist*innen hinaus zu kommen? Wie viele Wochen, wie viele Monate? Unserer Meinung nach ist das keine so einfache Rechnung. Für uns ist klar, dass – egal was für eine Art von Unterstützungsarbeit geleistet wird – wir uns unserer Verantwortung die sich aus unserer Anwesenheit ergibt bewusst werden müssen.
Verantwortung
Um es klarer zu machen: Wann geben wir Menschen auf der Durchreise Versprechen, die wir nicht halten können? Versprechen, die wir vielleicht nicht aussprechen, aber die von Anderen so wahrgenommen werden? Nehmen die Personen an, dass wir morgen auch da sein werden? Ein Beispiel: Nicht nur einmal haben wir von Migrant*innen gehört, dass sie die Erfahrungen, die sie geteilt haben – über Polizeigewalt, einen Push-Back oder die Behandlung in einem Lager – vor kurzem erst anderen Menschen erzählt haben, die sie dann auch dokumentiert haben. Im Anschluss haben sie nichts mehr von ihnen gehört, und nie erfahren, was mit ihren Berichten passiert ist. Auch hoffen sie, dass sich etwas ändert, nachdem ihre Geschichte aufgenommen wurde. Oft haben unsere Kollektive wegen der autonomen Art und Weise wie wir uns organisieren keine Namen. Aber es ist eine Frage von Verantwortlichkeit, klar zu kommunizieren, wer wir sind und wie wir wieder kontaktiert werden können. Können uns Menschen erreichen, wenn wir wieder in Deutschland sind, zum Beispiel über soziale Medien? Unserer Meinung nach ist es wichtig, sich über diese Punkte im Klaren zu sein, wenn wir in Kontakt mit Personen auf der Durchreise treten.
Der Wert davon ‘vor Ort’ zu sein
Also, stabilisiert unsere Solidaritätsarbeit als ‘voluntourists’ nur den rassistischen Ist-Zustand oder können wir die Anwesenheit von Westeuropäer*innen als eine Ablehnung von europäischer Grenzpolitik begreifen? Die Tatsache, dass westliche Staatsangehörige vor Ort sind, beweist – nach der rassistischen Logik von Medien und Staat – dass etwas von Bedeutung an den Grenzen, in den Lagern oder Gefängnissen passiert, und zeigt den staatlichen Behörden sowie den Migrant*innen, dass jemensch zuschaut und es nicht egal ist, was passiert. Das ist wichtig! Aber gleichzeitig stärken wir so das System von Unterdrückung und weißer Vorherrschaft, da wir auf die Position bauen, die wir im rassistischen System haben. Wir verlassen uns darauf, dass wir als westliche Europäer*innen besser durch staatliche Behörden und Medien behandelt werden als die Menschen auf der Durchreise. Wir verlassen uns auf unsere europäischen Staatsbürger*innenrechte. Wir verlassen uns darauf, dass in diesem rassistischen System unser Leben mehr Wert hat als das Leben der Menschen, die an der Grenze festsitzen. Dieser Widerspruch ist erneut etwas, das wir nicht durch Nachdenken ändern werden können, aber das Bewusstsein darüber hilft uns vielleicht dabei, die Positionen in denen wir uns befinden, zu verstehen und anzuerkennen. Es streicht auch die unbedingte Notwendigkeit heraus, das System weißer Vorherrschaft auf lange Sicht hin zu zerstören.
Machtpositionen – Wahrheitsproduktion
Lasst uns genauer über die Unterstützungsarbeit nachdenken, die entlang der ‘Balkanroute’ geschieht. Viele Kollektive kochen und verteilen Spenden – darüber zu reflektieren, öffnet die große Debatte über humanitäre Hilfe. Wir haben uns dazu entschieden, diese in unserem Artikel auszusparen und uns auf Unterstützungsarbeit in Form von Sammeln und Zusammenstellen von Informationen zu beschränken. In allen Fällen sind krasse Hierarchien im Bezug auf die Verteilung von Ressourcen augenfällig: Auf der einen Seite sind die Personen auf der Durchreise, die einen großen Mangel an lebensnotwendigen Dingen wie Wasser, Essen, einer trockenen, warmen Unterkunft für die Nächte, sowie an rechtlichen Informationen haben. Wir sind auf der anderen Seite, haben Zugang zu allen Arten von Materialien und Geld, sowie ein Netzwerk von verschiedenen aktivistischen Gruppen, NGOs und Anwält*innen, die wir mit rechtlichen Fragen kontaktieren können. Wir sind diejenigen, die wissen, woher Informationen zu bekommen sind, wir entscheiden, welche Informationen richtig und wichtig sind. Dies bringt uns in eine sehr mächtige Position, die es erlaubt Wahrheiten zu produzieren. Während wir Flyer verteilten und mit Migrant*innen sprachen, begriffen wir, dass die Informationen die wir weitergaben manchmal – nicht immer – die Entscheidungen der Menschen beeinflussten. Außerdem hatten die Wahrheiten, die wir produzierten auch Auswirkungen auf andere, wie die E-Mail des serbischen Taxi-Fahrers zeigt. Diese Wissenproduktion geht weiter, wenn wir nach Deutschland zurückkehren und als Expter*innen für die ‘Balkanroute’ wahrgenommen werden. Wenn wir diese Stellung akzeptieren, benutzen wir noch mehr von dieser diskursiven Machtstellung und bestärken das Bild von weißen Deutschen, die in andere Länder fahren und Gutes tun. Eine Idee, die wir hatten, war diese Angebote einfach abzulehnen – nicht bei öffentlichen Veranstaltungen zur ‘Balkanroute’ zu sprechen oder Interviews zu geben. Durch diese Ablehnung und die Erklärung der Gründe dafür starten wir idealerweise eine Diskussion über die strukturellen Ungleichheiten innerhalb dieser Form des Aktivismus mit den Organisator*innen der Veranstaltung, oder den Journalist*innen, mit denen wir konfrontiert sind. Es gibt viele Menschen in Deutschland, die die persönliche Erfahrungen auf der ‘Balkanroute’ gemacht haben. Migrant*innen, aber auch Aktivist*innen vom ‘Balkan’ könnten ein anderes Bild von der Situation und Entwicklungen zeichnen. Dies könnte eine Alternative darstellen.
Wir sind nicht so wichtig!
Auf der einen Seite nehmen wir es auf jeden Fall als Privileg war, dass manche Migrant*innen uns mehr zuhörten und unseren Urteilen mehr Vertrauen schenkten, nur weil wir Deutsche sind. Dadurch wie wir uns präsentieren, scheinen wir zu transportieren dass wir eine Art von Expert*innenwissen haben. Nicht nur aus diesem Grund sehen wir Unterstützungsarbeit als Verantwortung und appellieren, verantwortlich zu handeln: Machen wir es den Menschen auf der Durchreise gegenüber klar, wer wir sind, woher wir unsere Informationen bekommen, und wie wir sie ausgewählt haben? Auf der anderen Seite finden wir es wichtig, unsere eigene Rolle nicht zu überschätzen: Migrant*innen finden ihre Routen nach West- und Zentraleuropa, mit oder ohne Informationen von NGOs und anti-rassistischen Aktivist*innen. Informationen kursieren viel innerhalb von Communities, über persönliche Kontakte, Facebook und viele weitere Kanäle. Menschen auf der Durchreise misstrauen und hinterfragen Informationen, die sie von westlichen Aktivist*innen und NGOs erhalten, und treffen ihre eigenen Entscheidungen. Mehr Vertrauen wird Informationen geschenkt, die von Menschen bereitgestellt werden, die dieselbe Reise gemacht haben, oder ähnliche Erfahrungen teilen, die gleiche Sprache sprechen usw. Darum macht es aus unserer Sicht sehr viel Sinn, wenn Menschen, die die Erfahrungen teilen, diese Art von Informationsarbeit machen – wie zum Beispiel in der Refugee Movement Journey to Greece, die wir oben erwähnt haben. Ein weiteres Beispiel ist die Journey back to Greece der Gruppe Jugendliche ohne Grenzen.[22] Seit 2013 reisen Gruppen von jungen Menschen zurück an die Orte, an denen sie angekommen sind als sie als Geflüchtete nach Europa kamen – wie zum Beispiel Lesbos – und verteilen dort Informationen an neuankommende Migrant*innen. Diese Aktivist*innen als Expert*innen anzuerkennen, die spezifische Erfahrungen der Migration und Flucht selbst gemacht haben, erscheint uns wichtig, genauso, wie sich darüber bewusst zu werden, dass wir allzu oft dazu tendieren, uns als Expert*innen darzustellen.
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Wie weiter? Für einen gemeinsamen Reflexionsprozess und den Kampf um das Bleiberecht!
Hoffentlich kann dieser Text Teil einer Diskussion über weiße Privilegien und Rassismus im Kontext von Unterstützungsarbeit entlang der ‘Balkanroute’ sein. Es ist entscheidend, uns selbst und die Dinge die wir tun fortwährend zu hinterfragen, um der Welt in der wir leben wollen näherzukommen. Lasst uns einen gemeinsamen Reflexionsprozess und Ideenaustausch starten! Jedoch kann und sollte Reflexion nicht das Ende unserer politischen Kämpfe sein. Lassen wir unsere Analysen unsere Praxis beeinflussen. Wir werden dieses rassistische, patriarchale und kapitalistische System nicht zerstören, indem wir darüber nachdenken – aber die Reflexion kann unsere Arbeit für sozialen Wandel weiterbringen, kann eine andere Art von politischer Praxis hervorbringen. Aktivismus und Politik sind unserer Meinung nach andauernde Prozesse des Fehlermachens und Lernens. Wir fühlten uns oft in einer falschen Angst davor, Fehler zu machen gefangen– aber wir arbeiten auf eine aktivistische Kultur der gegenseitigen Kritik und des voneinander und miteinander Lernens hin![23]
Sollten deutsche Aktivist*innen nicht mehr auf die ‘Balkanroute’ fahren, um Menschen auf der Reise zu unterstützen? Ist es möglich, über ‘holidarity’ und ‘voluntourism’ hinauszugehen? Unsere Antwort auf die letzte Frage ist irgendwie ein ‘Nein, aber’. Nein, im Kontext von Unterstützungsarbeit entlang der ‘Balkanroute’ werden wir vermutlich immer aktivistische Touris bleiben. Aber: Wir können versuchen, uns als aktivistische Tourist*innen anders zu verhalten. In diesem Artikel haben wir versucht, einige Ideen dafür zu entwicklen: Zum Beispiel mehr über die lokalen politischen Kontext zu lernen, die lokalen politischen, aktivistischen Strukturen ernst zu nehmen, oder offen gegenüber anderen Organisationsformen zu sein, langfristiges Engagement zu zeigen und vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen. Wir schlagen auch vor, den Menschen auf der Durchreise gegenüber verantwortlich zu sein und unsere Mittel und Möglichkeiten offenzulegen. Für manche der Punkte die wir aufgeworfen haben gibt es keine konkreten Lösungen – besonders wenn wir über die Machtdynamiken in Unterstützungs-Verhältnisse und zu Grunde liegenden Strukturen weißer Vorherrschaft nachdenken. Manchmal geht es mehr darum, zu verstehen, dass wir Kompliz*innen des Systems sind, das wir eigentlich bekämpfen wollen, und diese Kompliz*innenschaft auszuhalten lernen. Um zur ersten Frage zurück zu kommen: Ja, oft finden wir, dass es mehr Sinn macht, dass andere als wir als Aktivist*innen oder Unterstützer*innen auf die ‘Balkanroute’ fahren – Menschen mit mehr Sprachkenntnissen, die bestimmte Erfahrungen mit all denen teilen, die gerade erst in Europa ankommen. Das Recht zu kommen ist unausweichlich mit dem Recht zu bleiben verknüpft, und die Menschen, die über die ‘Balkanroute’ kommen, erreichen irgendwann ihren Zielort. Die ‘Balkanroute’ befindet sich auch in Deutschland, da der Kampf gegen Grenzen keine Grenzen kennt.
[1]In diesem Text benutzen wir die Begriffe Geflüchtete, Migrant*innen, Non-Citizen, Asylsuchende oder Menschen auf der (Durch-)Reise synonym. Mit all diesen Begriffen werden Menschen vom Staat in Schubladen eingeteilt. Gleichzeitig werden sich diese Begriffe aber wieder angeeignet und als Selbst-Definitionen beansprucht.
[2]Migration aus der Türkei durch Griechenland, Mazedonien, Bulgarien, Serbien, Ungarn, Kroatien und Slowenien wird seit einiger Zeit als Bewegung auf der ‘Balkanroute’ bezeichnet. Der Begriff tauchte in der westlichen Migrationsforschung sowie in (staatlichen) Migrationsmanagementdiskursen auf. Seit Sommer 2015 wird das Wort sowohl in den deutschen Mainstream-Medien als auch in aktivistischen Kreisen verwendet. Wir nehmen wahr, dass der Begriff ‚Balkan‘ im deutschen Kontext viele problematische Generalisierungen und Annahmen über osteuropäische Staaten in sich trägt. Jedoch wird der Begriff auch als Selbstbezeichnung von unseren Genoss*innen aus ‘Balkan’-Staaten verwendet, weshalb wir das Wort in dem Text benutzen. Außerdem macht es das Sprechen über das Thema einfacher.
[3]Dies ist nur eine Auswahl von Ereignissen. Eine Chronologie kann z.B. hier nachgelesen werden: http://bordermonitoring.eu/ungarn/2015/09/of-hope/
[4]Die Begriffe haben wir von anderen Aktivist*innen, zum Beispiel von griechischen Genoss*innen, die über deutsche Aktivist*innen sprachen, aufgeschnappt. Sie bestehen aus den englischen Wörter: Volunteer (Freiwillige) und Tourism (Tourismus), sowie Holiday (Urlaub) und Solidarity (Solidarität).
[5]White Charity= von Rassismus profitierende Menschen leisten Hilfe an nicht-weiße Menschen und bestärken sich damit selbst als weiße Retter*innen
[6]Wir verstehen Weißsein/ whiteness im Kontext eines globalen weißen Herrschaftssystems, als eine Machtstruktur, die weiße Personen bevorzugt und People of Color benachteiligt. Wir als weiße deutsche Staatsbürger*innen wiederholen und profitieren ständig von dieser Struktur innerhalb von persönlichen Beziehungen und im alltäglichen Leben. Es handelt sich um ein System aus Macht und Wissen, das uns sagt, was richtig und falsch ist, welches Wissen relevant ist, welche Stimmen gehört werden und wer sichtbar ist. Da wir innerhalb dieses Macht- und Wissenssystems aufwuchsen, müssen wir uns ständig selbst hinterfragen um in der Lage zu sein es zu destabilisieren anstatt es zu verfestigen, oder um zumindest zu wissen, wogegen wir kämpfen.
[7]Zum Beispiel in den folgenden Artikeln: Nadiye Ünsal: Challenging ‘Refugees’ and ‘Supporters’. Intersectional Power Structures in the Refugee Movement in Berlin. In: Movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung, Ausgabe 2/2015. http://movements-journal.org/issues/02.kaempfe/09.%C3%BCnsal–refugees-supporters-oplatz-intersectionality.html (Englisch). Teresa Mair: Support vs. Solidarität. Fallstricke und Chancen der Zusammenarbeit zwischen Refugee Aktivist*innen und Supportern. S. 17-19, In: ZAG, Ausgabe 71/2016. Dorette Führer: „Das Ettiket ‘Unterstützer’ als Mittel um sich rauszuhalten“. Ein Interview mit Rex Osa (The Voice Refugee Forum). S. 28-30. In: Wie ist deine Freiheit mit meiner verbunden? Stichworte zu gemischter Organisierung, Definitionsmacht und Critical Whiteness, 2014. https://transact.noblogs.org/files/2014/02/transact6_de.pdf.
[8]Wir und die meisten Personen, die wir trafen und mit denen wir zusammengearbeitet haben, definierten sich als Aktivist*innen – in Abgrenzung zu freiwilligen Helfer*innen. Auf den ersten Blick war klar für uns, dass der Unterschied zwischen uns als Aktivist*innen und den Freiwilligen in neon-farbenen Schutzwesten sich deutlich durch unsere radikalen anti-nationalen Einstellungen und unseren ‘autonomen’ Organisationsstil definieren ließ. Jedoch verschwamm diese Trennung während dem Verteilen von Essen, Getränken oder Kleidung. Nachdem Mitglieder des Küchen Kollektivs in Idomeni als politische Agitator*innen beschuldigt wurden, wurde eine Erklärung von ‘unabhängigen Freiwilligen’ veröffentlicht (http://aiddeliverymission.org/independent-volunteers-are-not-responsible-for-eu-violence/). Dies könnte darauf hindeuten, dass der Begriff ‘Freiwillige’ als strategische Selbst-Definition benutzt wurde um dem Label ‘Aktivst*innen’ zu entkommen und eine Brücke zwischen ‘humanitären Freiwilligen’ und ‘politischen Aktivist*innen’ zu bauen.
[9]Die Zeit in der wir beim Projekt ‘Moving Europe’ mitreisten, das von Medico International finanziert wurde, war es eine noch stärker privilegierte Art des ‘Auf-der-Balkanroute-Unterwegsseins’, da unsere Ausgaben für Essen, Unterkunft und Transport vom Projekt gezahlt wurden.
[10]Der Text der E-Mail wurde zur besseren Lesbarkeit leicht verändert.
[11]Ein Beispiel ist ein Bericht einer deutschen aktivistischen Gruppe über Mazedonien, der die existierenden lokalen Strukturen stark kritisiert (in diesem Fall eine Gruppe von Anwält*innen) und ausführlich darauf eingeht wie ungenügend das öffentliche Gesundheitssystem ist, ohne den lokalen Kontext und den Fakt zu berücksichtigen, dass sie gerade erst in Mazedonien angekommen sind und daher keine Ahnung von den Unterstützungsstrukturen haben. Im ganzen Bericht stellen sie sich als die deutschen Retter*innen von ‘armen Geflüchteten’ in einem ansonsten rücksichtslosen Land dar: https://openborder.noblogs.org/post/2015/12/16/situation-von-fluechtenden-in-mazedonien-erfahrungsbericht-vom-12-12-2015/ .
[12]Die meisten süd- und osteuropäischen Gesellschaften sind von steigender Jugendarbeitslosigkeit, anhaltendem Wegzug nach Nord- und Westeuropa, sozialem Abstieg der Mittelschicht und großer Altersarmut geprägt. Gleichzeitig tauchen alte und neue rassistische Bilder über Süd- und Osteuropa auf, die sich hartnäckig halten und in unterschiedlichen Kontexten in ihrer Funktion variieren: ‘Faule Griech*innen’, die arbeitsunwillig und daher verantwortlich für ‘ihre’ Krise sind, bulgarische und rumänische ‘Räuberbanden’, die seit dem EU-Beitritt in westlichen Großstädten umherziehen und so weiter.
[13]Wir wissen oft nichts über die lokale politische Geschichte. Zum Beispiel macht es einen Unterschied im politischen Bewusstsein der Menschen, dass Serbien vor nur 20 Jahren von der NATO bombardiert wurde. Es geht nicht darum, Schuldgefühle auszulösen, sondern die blinden Flecken aufzuzeigen, die wir haben. Ein Buch, das wir in diesem Kontext empfehlen ist ‘Die Erfindung des Balkans’ (1999) von Maria Todorova. Auch stellen zum Beispiel diese Blogs Informationen und politische Hintergründe in englischer Sprache bereit: www.criticatac.ro und https://noborderserbia.wordpress.com/.
[14]Zugegeben – wir haben an einem Artikel mitgeschrieben: http://bordermonitoring.eu/balkan/2015/11/some-reflections-on-sid-and-adasevci/
[15]Interview mit No Border Serbia: http://moving-europe.org/2015/11/21/direct-actions-of-solidarity/ und Clandestina: http://moving-europe.org/2015/12/24/in-a-bosses-world-we-are-all-strangers/.
[16]Diese Dynamik wurde in den deutschen Medien schnell sichtbar, als es zum Beispiel selbst-organisierte Kämpfe von Geflüchteten gab. Über die Debatte zu neu gegründeten ‘Willkommensinitiativen’ und selbst-organisierte Protesten der letzten Jahre siehe z.B. (nur auf Englisch): http://africasacountry.com/2015/11/resisting-welcome-and-welcoming-resistance/.
[17]Wir wollen an dieser Stelle die hervorragende Broschüre von Glokal e.V. „Mit kolonialen Grüßen…“ empfehlen, ein einfach zu lesender Text über Reiseberichte junger Menschen, die Freiwilligendienste im Globalen Süden machen: http://www.glokal.org/publikationen/mit-kolonialen-gruessen/.
[18]Die Motivation, Unterstützungsarbeit entlang der ‘Balkanroute’ zu machen wird auch in einem Artikel des Guardian beschrieben: „Das Gefühl gebraucht zu werden und die Dankbarkeit von Geflüchteten sind belohnend. Junge Freiwillige aus der ganzen Welt kommen für eine Erfahrung, die wohlhabende Gesellschaften nicht bieten: eine Reduzierung auf das Wesentliche. Sie können unabhängig sein, Verantwortung tragen und bedeutungsvolle Arbeit verrichten, gepaart mit einem Schuss Abenteuer und keiner Zeit darüber nachzudenken, was du anziehst oder was du isst. Mehr als alles andere ist es die Chance, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die die gleichen Ideale teilt.“ https://www.theguardian.com/world/2016/jun/09/whats-in-it-for-them-the-volunteers-saving-europes-refugees.
[19]Diese Beobachtung stützt sich auf unsere eigenen Erfahrungen. Der folgende, oben bereits erwähnte Artikel diskutiert das Thema Geschlecht detaillierter (nur auf Englisch): Nadiye Ünsal: Challenging ‘Refugees’ and ‘Supporters’. Intersectional Power Structures in the Refugee Movement in Berlin. In: Movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung, Ausgabe 2/2015. http://movements-journal.org/issues/02.kaempfe/09.%C3%Bcnsal—refugees-supporters-oplatz-intersectionality.html.
[20]http://greecetour.oplatz.net/voices-from-idomeni-a-talk-with-taysir/
[21]http://www.huffingtonpost.com/manar-bilal/our-refugee-camps-are-not-tourist-attractions_b_9041800.html
[22]Lest hier die Reiseberichte: http://lesvos.w2eu.net/files/2014/02/Lesvos2013-Screen-DS.pdf and http://lesvos.w2eu.net/files/2015/02/Doku-Lesvos-2014_web.pdf.
[23]Melanie Bee schreibt in diesem Artikel unter anderem über die Gefahr davon, Selbst-Reflexion von einer anti-rassistischen Praxis zu trennen: http://migrazine.at/artikel/das-problem-mit-critical-whiteness.